Neuerscheinung: Eigensinnige Orte//Stubborn Places

Neue Narrative zwischen Echos und Geistern

Die Publikation Wird erstmals auf der Buchmesse Miss Read im Haus der Kulturen der Welt in Berlin vorgestellt und ist seit dem 20. September erhältlich. Zudem besteht die einmalige Möglichkeit, am 26. Oktober um 19 Uhr an einem Gespräch und einer Lesung im Café des Haus am Waldsee teilzunehmen.

Was ist ein eigensinniger Ort? Was macht die Eigensinnigkeit eines Ortes aus? Wie kann diese Eigensinnigkeit mit Mitteln von Text und künstlerischer Forschung erschlossen werden? Sind das Orte mit eigenem Sinn oder Orte im eigenen Sinne?

Verhandelt werden diese Fragen von Tobias Becker, Elisabeth Brun, Stefanie Bürkle, Knut Ebeling, Alex Gross, Carla Hinrichs, David Karl, Lars Ostenfeld, Ulrike Ottinger, Lola Randl, Emily Strange, Zsuzsanna Toth, Katrin Wegemann, Lawson Wood und Dong Zhou. Sie alle schildern, wie aus ihren Disziplinen heraus darüber gedacht werden kann. In den Texten und filmischen Projekten der Publikation geht es um den Dialog mit dem Ort und seinen Eigensinnigkeiten. Diese sind geknüpft an tatsächliche Erfahrungen, das exponiert Sein und die Verletzlichkeit, verbunden mit einem Neugierigsein, einem Sicheinlassen, mit einem Zulassen des Berührtwerdens vom Ort.

Die Publikation ist das Ergebnis eines Forschungsprojekts am Fachgebiet Bildende Kunst der TU Berlin und ist in zwei Teilen aufgebaut: Im zweiten Teil werden die filmischen Ergebnisse aus den Forschungsprojekten am Fachgebiet Bildende Kunst am Institut für Architektur der TU Berlin vorgestellt. 

Im ersten Teil der Publikation führen 15 Praktiker:innen bzw. Theoretiker:innen aus Kunst und Wissenschaft unterschiedlicher Generationen und Fachdisziplinen einen praxisnahen Diskurs: Sie schildern, wie aus ihren Disziplinen heraus darüber gedacht werden kann, aber auch wie die Erfahrung des Kontaktes mit dem Ort im Kontext einer Praxis die Perspektive und den Ort geformt hat. Den Anfang bildet ein Interview mit der Künstlerin und Filmemacherin Ulrike Ottinger, das die Herausgeber:innen im Herbst 2022 bezogen auf den Film „Unter Schnee“ geführt haben. Ottinger stellt dar, wie der Ort mit seinem Material und seinen Ak­teur:innen zum Protagonisten ihres Films wird. Das Interview mit der Filmemacherin erscheint als ein Kompass mit Blick auf die 30 studentischen Filmprojekte, die als visuelle Vertiefung den zweiten Teil der Publikation bilden.

Gletscherloch im Breiðamerkurjökull, Island, 25.01.2023, Foto: Katrin Wegemann

Bei Ulrike Ottinger heißt es „Unter Schnee“, während der Philosoph und Medientheoretiker Knut Ebeling in seinem Text „auf dem Schnee“ steht. Der Text zeigt die Komplexität und Paradoxität der Schichtung an sich auf. Über eine neue Schicht schreibt Ebeling, dass sie nicht nur ein anderes Aussehen, sondern ein „anderes Sein und eine neue Sichtbarkeit“ mit sich bringt. Die Schichtung ist somit sowohl verbergendes als auch öffnendes Element.

Dies sind Hinweise, die als Lesart auf alle weiteren Texte anwendbar sind.

Nach dem Schnee führen gleich zwei Texte ins Eis und damit ins „Zentrum des Klima­wandels“. Die Bildende Künstlerin Katrin Wegemann beschreibt ihren Eindruck vom Gletscher Breiðamerkurjökull und lässt sich von Farben, Linien und Negativformen leiten, denen sie als ästhetisches Echo nachspürt. Der Gletscher wird nie wieder so sein, bekommt etwas Ephemeres, das auch im skulpturalen Werk der Künstlerin prägend ist.

Noch tiefer dringt der dänische Filmemacher Lars Ostenfeld in den Eisschild ein. Die Geräusche, die unfassbare Erfahrung beim Abseilen in eine 175 m tiefe Eishöhle während eines Dokumentarfilms stehen allgegenwärtig in Verbindung mit dem Wissen um die Schmelze und ihre Folgen.

Die Gedanken der Klimaaktivistin Carla Hinrichs, die zwischen den beiden Texten stehen, überführen dieses Wissen um Schmelze und Kipppunkte in einen globalen, aktivistischen Kontext. Die vom Menschen ausgelöste Katastrophe zerstört Schichten, nimmt Lebensgrundlagen und löst Durchdringungen und Auflösungen aus, die für das Bewohnen toxisch sind.

Parallel zum Auftauen des Eisschildes führt der nächste Text auf den Grund des Meeres. Der britische Taucher Lawson Wood beschreibt jene Neugierde über eine schimmernde Welt voller Komplexität aus der Sicht der Tauchenden. Vom Meeresgrund tauchen wir an die Oberfläche der Lagunenstadt Venedig, zu den ehemalige Quarantäneinseln, den Lazarettos. Die britische Künstlerin und Wissen­schaftlerin Emily Strange war den Anthropolog:innen, die sich dem Erhalt der Lagune widmen, gefolgt. Das von „Geistern“ bevölkerte Archipel konzeptualisiert sie in seinen Schichtungen und im Kontext einer Zeichenpraxis.

Ebenfalls im Kontext einer Zeichen­ bzw. skulpturalen Praxis nähert sich Alex Gross der Eigensinnigkeit an einem Ort, an dem vor allem das, was nicht mehr da ist, spürbar wird. Die Wassermassen eines sturzflutartigen Regens in Katalonien hinterlassen das Echo des Abwesenden, das zum präsentesten Akteur in einem labyrinthischen, postsurrealistischen Experiment wird.

Wie der Text der norwegischen Filmemacherin und Forscherin Elisabeth Brun verdeutlicht, ist Fluidität aber auch in den scheinbar stabilsten Formationen vorhanden. Material, das aussieht, als wäre es für die Ewigkeit gemacht, entpuppt sich als konstanter, wenn auch langsamer Transformation. Auf den Boden der Endmoränenlandschaft führt uns die Schriftstellerin Lola Randl. Die Landschaft bleibt immer in Bewegung. Die „Himmelsteiche“ erscheinen jedes Jahr aufs Neue, egal mit wie vielen Steinen man versucht, sie zu füllen. Sie spiegeln den andauernden Eigensinn einer Region und ihres Bodens.

Bei Tobias Becker bleibt die Zeit für einen Moment stehen. Auf meditative Weise widmet er sich der Schwellenerfahrung, die sich im Dazwischen ausbreitet. Eine Hütte im Wald in der Eifel bleibt auf versöhnliche Weise uneindeutig, 

Auch der Potsdamer Platz in der Mitte Berlins zeigt sich als ein Schwellenort. „Der Potsdamer Platz war wie eine Lichtung im Wald der Stadt, an dessen Rändern noch einzelne Gebäude und Ruinen standen, still, mitten im Stadtlärm“, schreibt Stefanie Bürkle. Der Platz wird zum Resonanzort ihrer fotografischen Untersuchung, die wie in einer Langzeitbelichtung die Stadt als Bühne und Transitraum begreift und festhält. Wenn der:die Musiker:in und Komponist:in Dong Zhou von einem Resonanzort spricht, dann ist hier primär von der akustischen Resonanz die Rede. Der im Hafen von Hamburg festgemachte Metallkörper der MS Stubnitz dient ihr:ihm als Klang­ körper und Inspiration.

David Karl, Künstler und Materialwissenschaftler, entwickelt seine Gedanken über komplexe Verflechtungen, Material und Medienprozesse, während er auf der Betonplatte des Grabes von Buffalo Bill in Colorado steht. Hier scheinen die Fäden von Material und Geschichte, Radioaktivität und Gewalt einer Gegend zusammenzulaufen. Im letzten Text der Publikation führen uns die Gedanken über Ort, Material und Handlung in das Innere des menschlichen Körpers. Das Essen ist bei Zsuzsanna Toth eine Art vereinnahmte Korrespondenz, deren klare Zugehörigkeit zum Ort von Zweifeln durchzogen ist: „Guter Geschmack hat (k)ein Zuhause“.

Ein kleiner Skorpionfisch ruht sich zum Schutz unter dem stechenden Tentakel einer Dahlienanemone im Nationalen Naturreservat St Abb’s Head aus, Schottland, 2003, Foto: Lawson Wood

Der zweite Teil des Kompendiums ist der künstlerischen Forschung am Fachgebiet Bildende Kunst mit dem Medium Film am Institut für Architektur der TU Berlin gewidmet.

Diese basieren auf direkter Erfahrung und kollaborativer filmischer Arbeit als Form der Exponierung und zeigen eine Vielzahl von Ansätzen. Dieser Teil wurde den Handlungen Verbinden/Connecting, Bewegen/Moving, Driften/Drifting, Enthüllen/Revealing und Leben/ Living zugeordnet. Diese werden nicht als Einbahn­straße verstanden, sondern als Transfer, als beidseitige Handlung zwischen Ort und Akteur:innen und stehen am Beginn der Erstellung eines Archivs der digitalisierten Projekte künstlerischen Forschens, dem Zeit Raum Archiv.

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Daddy Shot My Rabbit – eine Choreografie von Chris Jäger

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